Tristan Ulysses Hutgens
30. November 2025 – 30. Januar 2026







Fotos: Tristan Ulysses Hutgens
Obwohl sich unsere Welt immer schneller zu verändern scheint, betrachten wir sie doch als ein fertiges Ensemble von Dingen oder dinglichen Wesen. Paradoxerweise betrachteten griechische Philosophen vor mehr als zweieinhalbtausend Jahren in einer noch viel statischeren Umwelt die Welt aus einer ganz anderen Perspektive: Alles fließt oder ist in Bewegung (Heraklit). Ein Grund für diese Verschiebung besteht wohl darin, dass wir unser Leben immer stärker über unseren Konsum definieren, der sich mit Dingen umgibt, diese aufbraucht und dafür eine sehr erfolgreiche Warenproduktion entwickelt hat. In der Kunst hat das dazu geführt, dass dieser Warenmechanismus und das Damit-Leben und -Umgehen einen Perspektivenwechsel herausgefordert hat. Die Stilisierungen einzelner fertiger Produkte unserer Warenwelt, entweder als elementare Maßeinheiten – wie in der Minimal Art – oder als glitzernde Ikonen – wie im Neopop Jeff Koons – werden jetzt vom Kunstmarkt wie goldene Kälber angebetet.
In der Frage, wie die Kunst unsere Aufmerksamkeit auf das Geschehen unserer Welt neu einstellen oder zu tieferen Reflektionen Anlass geben kann, sind auch andere Haltungen möglich. Statt die Produktionsleistungen aufs Elementare – wie in der Minimal Art – oder aufs total Ausgefeilte und Grelle zu lenken, kann sie im Bereich der Skulptur antreten, unser Materialitätsbewusstsein radikal neu zu befragen. Was verbirgt sich hinter fertigen, glänzenden Oberflächen? Sind solche Oberflächen nicht etwas völlig Scheinhaftes? Müssen wir nicht diese Oberflächen auf ihre Wahrhaftigkeit befragen, die Erstarrungen beiseite wischen und uns der dahinter verborgenen Kräfte, Energien und Prozesse bewusst werden? Und im Zuge dessen zugleich das unterschwellige Herrschaftsverhalten des Menschen gegenüber seiner Umwelt in diesen Prozessen freilegen und umlenken? Müssen wir nicht das sich dahinter verbergende Ideal der perfekten Kontrolle unserer Welt infrage stellen? Beide Gesichtspunkte, Urgründe von Materialität freizulegen und Kontrolle infrage zu stellen, treiben das bildhauerische Werk von Tristan Hutgens an. Hier ist nichts ein statisches, fertiges Ding, sondern alles wird aufs Prozesshafte umgelenkt, nichts fertig vorhergeplant, sondern alles auf Selbstfindung und -bildung ausgerichtet. Hutgens’ Atelier als Entstehungsort seiner skulpturalen Gebilde gleicht einer Hexenküche, in der es stark brodelt, heiße, giftig aussehende Dämpfe hochschlagen, Mixturen ineinanderwirbeln und das Erkalten oder Erhärten gar nicht absehbar scheint. Schicht um Schicht türmt sich auf und scheint sich in immer neuen Verschiebungen fortzubewegen. Die Regeln für diese Prozesse sind nicht von außen gedacht oder vorgegeben, sondern ergeben sich aus dem Materialfluss selbst und dem Staunen über die Vielfalt des Quellens. Hutgens lässt uns am Entstehen teilnehmen, weil er die Zustände seiner Gebilde so einrichtet, dass das Werden spürbar oder ablesbar ist. Die resultierende Form seiner skulpturalen Gebilde steht nie am Anfang, sondern immer am Ende seines bildhauerischen Einwirkens.
Hutgens lässt sich auf verschiedenste Materialien ein, startet entweder mit dem Entstehungsprozess – dies ist besonders bei den Metallen eindrücklich – oder anfänglichen Bearbeitungsprozessen oder mit einer Art Wachstumsprozess. Dabei werden die Materialprozesse zugleich zu dem inneren Wesen der Prozesshaftigkeit seines bildhauerischen Arbeitens umgewandelt. Die eigenen Handlungen in Form von wiederholten Anwendungen oder von In- oder Aneinanderfügen oder das Überschreiten von im Material vorhandenen Grenzen (Überschreitung von Brenntemperaturen) vereinigen sich mit den Prozessverläufen des Materials. Das Ende dieses dialogischen Prozesses ist nicht absehbar, ist für den Schöpfer Hutgens selber auf Überraschung gestellt und ist Ursache für die Magie, die sich uns aus seinen Arbeiten mitteilt. Mitunter belässt er die sich abzeichnenden Gebilde an ihrem Entstehungsort, z. B. in einem Gießkasten, und stellt beides zusammen aus. Die Ausbreitung oder das Wachstum seiner Gebilde entnimmt er mitunter alltäglichen äußeren Umständen wie z. B. dem Regen. Bei einer Gruppe von Arbeiten der Ausstellung gibt Regen mit seinen Pfützen eine erste Formsetzung. Danach beeinflusst er noch die Oberfläche während des Gießens (siehe Abbildung Einladungskarte). Bei fast allen seinen Arbeiten spielt der Einsatz von Energie eine wichtige Rolle und mit ihr die Wandlungen in Aggregatzuständen und der Körperlichkeit des Materials. In seinem Atelier erzeugt er Temperaturen bis zu 3100 Grad, bei denen schwer zu beurteilen ist, ob Materialgewinnung oder Materialzerstörung einsetzt. Mit einer Metapher aus der Natur ausgedrückt kann er das Material zum Erblühen bringen oder auch dem Verfall aussetzen und die schmale Grenze ausloten, die beides voneinander trennt. „Zunder“ ist zum Beispiel nur noch durch sprachliche Bilder bekannt – als Abfall- bzw. Abplatzungsprodukt von glühendem Metall für fast alle von uns nie leibhaftig erfahren. Als Bodeninstallation ist es eine leicht riechende, schwer in ihrer gebildehaften Konsistenz einzuschätzende dunkle, stumpfe Masse.
Hutgens geht es aber nicht einfach darum, das Urphänomen von Materialentstehung aufzugreifen, sondern zugleich seine Rückwirkung auf unsere eigenen Leiberfahrungen deutlich zu machen. Denn der menschliche Körper wird dann zum Leib, wenn er sich fühlend auf seine Umgebung einlässt. Die taktile Rückwirkung ist bei allen Gebilden von Hutgens bedeutsam. In gleicher Weise betrifft dies auch den visuellen Bereich. Daher benutzt Hutgens immer wieder die Fotografie als visuellen Anker im Dahin- und Forttreiben des Materialverhaltens. Die Fotografie entkleidet er aber ihrer vermeintlichen distanzierten Neutralität und benutzt ihre eigene sensible Prozesshaftigkeit unterschiedlichen Emulsions- und Entwicklungsverhaltens zur Mitwirkung an seinen Arbeiten. Hutgens’ neugieriges und forschendes Verhalten belebt dabei scheinbar längst vergangene Techniken wie den Gummidruck. Ihn interessiert auch der mediale Transfer, der mit der Produktion von Bildern im Kontrast zur Produktion von Gebilden einhergeht. Außerdem dient ihm das Medium dazu, sich aus dem Mitgerissenwerden von den Materialveränderungen zu befreien und an sich selbst zu beobachten, in was er sich von der Logik des Materials hat hereinreißen lassen. In seinen Gebilden widmet sich Hutgens auch der Thematik der Gelenkstellen, der heiklen Verbindungen des Materials miteinander oder ihres Überganges ineinander. Wie lässt es sich fassen, wie kann es Verknüpfungen eingehen, in welche Umgebung sich einfinden, wie kann es stehen oder hängen und damit Umgebungen umdefinieren?
Seine Skulpturen sind nicht leicht zu vereinnahmen. Der Blick wird von dem Fluss des Materials mitgerissen. Es scheint kein Anfang und kein Ende zu geben. Anders als in der Formbildhauerei ist es dem Auge nicht möglich, die Gebilde auf einen Schlag zu überblicken oder auch einen Angelpunkt zu entdecken, von dem alles abgeleitet ist. In diesem offenen wahrnehmenden Erforschen realisiert sich selber etwas von dem Prozesshaften, dem seine Gebilde unterworfen sind, und das verleiht ihnen eine Lebendigkeit, die nicht so sehr an Gegenstände, sondern an Wesen denken lässt. Das Material in seinen changierenden Oberflächen, seinen Schichtungen und unvorhersehbaren Formentwicklungen fordert ein unverkrampftes Sehen ein. In seinem Verlauf wird erkennbar, durch welch aufwändige Prozesse sich die jeweiligen Skulpturen herausgeschält haben, die im Vergleich zu den Praktiken der Warenwelt ohnegleichen in dieser auf Effektivität gestellten Welt ist. Da Hutgens seine Gebilde ausschließlich im eigenen Atelier erarbeitet, ausschließlich dort seine Materialforschungen und -auferstehungen stattfinden lässt, ist sein eigener Körper in diesen Gebilden wie unsichtbar präsent, definiert damit aber auch für sie ein Maß, welches in der heutigen Dingproduktion der Warenwelt verlorengegangen ist. Dieses Maß in Verbindung mit dem gleichzeitigen Zu-Wort-Kommen-Lassen der Selbsterzeugung des Materials gibt seinen Gebilden eine implizite innere menschliche Lebendigkeit und das Gefühl für eine Erforschung dieser Lebendigkeit, für ihre Offenheit und für ihre Möglichkeiten, die hier nicht unbegrenzt, sondern eingebunden in ihr Umfeld sind.
Warum ist es gerade heute umso wichtiger, sich mit Materialität auseinanderzusetzen? Wir verstehen nicht mehr, wie die Welt hinter den Fassaden der Oberfläche aussieht. Sie lassen uns über die verborgenen Materialitäten im Unklaren. Außerdem ist in der Medienwelt mit der Vorrangigkeit von Virtualität ein Gefühl für das Authentische am Material verlorengegangen. Ist es nicht nötig, die heutige, immer jeweils fertig erscheinende Welt zu untergraben? Müssen wir uns gleichzeitig nicht gegen das Virtuelle über das Echte versichern? Und müssen wir uns nicht wieder öffnen oder auch neugierig machen für das Sichentwickelnde, Nicht-Vorhersehbare, welches – entgegen unserer Stilisierung zu Göttern – uns in die Hand gegeben ist?
Rolf Hengesbach
