OLGA STOZHAR

they are looking at us

January 28 – March 6, 2020

Seit drei Jahren arbeitet die jüdisch russische Künstlerin Olga Stozhar an einem großen Projekt zur Aufarbeitung einer subjektiven Erinnerungsgeschichte und künstlerischen ‚Verlebendigung’ der Opfer des Nationalsozialismus. Das Projekt trägt den Titel: „they are looking at us“. Olga Stozhar benutzt hierfür Photos von Opfern, die in den Konzentrationslagern oder beim Aufstand des Warschauer Ghettos umgekommen sind. Diese Photos erschließt sie sich aus Archiven und vorliegendem Dokumentationsmaterial. Sie benutzt sie als Vorlagen, um in einem sehr intensiven zeichnerischen Prozess, die Gesichtszüge der Opfer auf Din A3 großen Papieren mittels einer nicht abreißenden Strichfolge in schwarzer, blauer oder roter Farbe in eine andere Lebendigkeit zu bringen.
Für diese Lebendigkeit ist der elektrisierende, dynamische Zeichenstrich der Künstlerin maßgeblich, wobei sie in ihrer Herangehensweise von einem klassischen zeichnerischen Verfahren abweicht. Sie benutzt die zeichnerische Linie nicht primär zur Abgrenzung des Volumens und zur Akzentuierung der charakteristischen Merkmale eines Gesichtes, sondern sie dient wie bei einem Pendel mit einem Gewicht zum Schwungholen, um in ausgreifenden Bewegungen einen extrem komplexen Weg auf dem Gesamtfeld der Zeichenfläche zurückzulegen, der sie immer bis an den Rand der Fläche und dann zurück zu verschiedenen, sich im Verlauf der Arbeit ergebenden verdichtenden Zonen führt. Dieser reichhaltige und verschlungene Zeichenweg bringt schließlich eine Einfühlung in den Anderen und dessen seelische Verfasstheit hervor. Insofern kann man auch davon sprechen, dass ihr Zeichenstift eine direkte Verlängerung der eigenen Emotionen in Bezug auf den gemordeten Anderen ist.
Stozhar benutzt eine feine kreisende Linie. Diese Linie bleibt als Linie immer bestehen. Selbst in den intensivsten Verdichtungen und erratisch gezackten Formen ist es die einzelne Linie, die ihren Weg zu einem nicht vorhersehbaren Ziel beschreibt. Sie ist mal stärker, mal schwächer auf das Papier gepresst, aber es ist immer dieselbe dünne Linie. Sie verwendet nicht die multiplizierte oder die mechanische Linie in Form der Schraffur. Ihre Linie kennt Verdichtungen, Verknäuelungen, das dichte Miteinander mit sich selbst, aber sie kennt auch die Vereinzelung in der Leere des Raumes. Ihr Weg auf dem Papier ist von dynamischem Fortschreiten und Ausgreifen und zugleich von unzähligen Kehrtwendungen geprägt. Der Raum des Papiers wird bei jeder Zeichnung unterschiedlich erschlossen. Es gibt mitunter so dichte Linienbereiche, dass das Weiß des Papiers verschwindet und es gibt offene Bereiche, in denen das Papier als weiße helle Fläche zum Vorschein kommt. Dennoch hat das Weiß und das Schwarz nichts mit Licht und Schatten zu tun. In Olga Stozhars Zeichenwelt gibt es erstaunlicherweise kein Licht und keinen Schatten. Man könnte deswegen auch davon sprechen, dass es eine Welt jenseits unserer natürlichen Welt ist, eine Welt der sprechenden Geister oder eine der Seelen. In ihrer Zeichenwelt wird nichts erzählt, vielmehr ist alles auf den elementaren menschlichen Ausdruck konzentriert.
Die Gesichter sind im Maßstab viel größer als ein menschliches Gesicht. Dennoch wirken sie nicht monumental. Die Fokussierung auf den Zusammenklang der Striche bringt rein den menschlichen Ausdruck zur Erscheinung, nicht die vereinzelten Merkmale des Gesichtes. Diese Konzentration auf den Ausdruck hält uns auf Abstand, sodass wir die Gesichter als ebenbürtig und nicht als vergrößert erleben. Die deutlich sichtbare materielle Physis und Energie des Striches und die verletzliche Zartheit und Dünne des Papiers lässt die menschliche Verletzlichkeit und Geprägtheit umso offensichtlicher erscheinen.
Der Dialog zwischen den zeichnerischen Verdichtungen und den Leerstellen auf der weißen Fläche des Papiers führt bei uns Betrachtern zu einem beständigen Umkippen in der Wahrnehmung. Man kann nicht entscheiden, ob in der Fülle oder in der Leere das eigentliche Bedeutungsgewicht liegt. Gerade dieses Changieren gibt Stozhars Zugriff auf die Gemordeten eine Angemessenheit in der offenen Zuweisung der Bedeutsamkeiten, denn wir als die Überlebenden müssen uns den Zugang bei jedem einzelnen Blatt anders erarbeiten.
Betrachtet man die Zeichnungen wie in einem Buch nacheinander, so kommt die Reichhaltigkeit und die Verschiedenheit des menschlichen Gesichtes mit dem ihm eingeschriebenen Leben zum Vorschein. Betrachtet man dann die in der Ausstellung zu einzelnen Blöcken sorgsam zusammengestellten Gesichter, so ergibt sich eine andere paradoxe Erfahrung. In der Fülle des Zusammenklangs wird der Verlust, der der Menschheit durch diese Morde zugefügt wurde, offenbar. Zugleich aber, und dies ist eine erstaunliche Erfahrung, entsteht zwischen diesen Menschen eine Beziehung, sie sprechen miteinander. Weil der Dialog in den einzelnen Präsentationsblöcken eine so wichtige Rolle spielt, hat Olga Stozhar auch lange an dieser Installation gearbeitet. Es geht ihr um das Zeigen von Wärme und Liebe, also das Gegenteil von Gewalt und Tod, Grausamkeit und Ungerechtigkeit.
Als dialogische Vernetzungsstruktur hat Olga Stozhar einen Dreierrhythmus gewählt, bei dem es automatisch zu einer Spannung zwischen Zentrierung und Dezentrierung, Mittelglied und Außenglied kommt. Gleichzeitig entsteht durch den einheitlichen Abstand eine vertikale und eine horizontale Verbindung zwischen den Gesichtern. Daraus entwickelt sich ein komplexeres Möglichkeitsfeld, denn formale Eigenschaften der einzelnen Zeichnung können von einem Blatt zum anderen überspringen. Jedes Gesicht ist geprägt durch die Gestaltung von Mund, Nase, Augen und Ohren, sowie den Haaren als ihren Begleitern. Wie Augen zueinander stehen, wie eine Nase sich zwischen sie setzt und auf einen Mund zustrebt, wie der Mund den Nasenhöhlen durch den Schwung der Lippen eine Form der Verschließung oder der Öffnung zueignet, dies geschieht immer wieder anders. Da Olga Stozhars Strich aber niemals das einzelne Sinnesorgan beschreibt, sondern es in ein Gewebe von Verbindungslinien einbindet, aus dem es erwächst, können die Verbindungslinien auch ein Gespräch mit dem Nachbargesicht beginnen. Materialitäten wie die Haare oder einzelne Formen werden nicht imitiert, alles ist auf Verbindung angelegt, nur dass die Verbindungswege selbst von extrem unterschiedlicher formaler Ausgestaltung sein können. Ein Organ allerdings drängt sich trotz aller Bewegtheit der Linie in den Vordergrund und bildet einen Ort der Stille innerhalb der dynamischen Akzente auf der Fläche: die Augen. Sie sind ein Fixpunkt und heften sich an uns Betrachter und erwarten von uns eine Antwort auf die offenen Fragen der Menschheit.
Kann Kunst mit dieser Menschlichkeitskatastrophe umgehen? Es steht Adornos Diktum im Raum, dass nach dem Grauen von Auschwitz ein Gedicht zu schreiben barbarisch wäre. Auf dieses Diktum kann jedenfalls nicht mit einem künstlerischen Realismus geantwortet werden: so können die Gemordeten nicht ins Leben zurückgerufen werden. Olga Stozhars Antwort auf diese Herausforderung ist eine doppelte: An die Stelle des Realismus setzt sie einen nicht auf das Äußerliche ausgerichteten Zeichenprozess und sie klammert das Grauen aus. Stattdessen setzt sie beim Kern des Menschlichen an, dem individuellen Ausdruck. Ihre Verlebendigung bleibt ausschließlich an den künstlerischen Prozess gebunden. Stozhar erschafft für sich die freie Linie, die aus ihr herauszuströmen scheint und sich in einer einfühlenden Versenkung in den Anderen Bahn greift. Die Linie wird in einen offenen Prozess versetzt, der für jede Person immer wieder anders sein muss. Stozhar hat sich keine Strategie zurechtgelegt, sondern versucht sich immer wieder erneut an dem offenen Suchen nach dem Anderen. In einem scheinbar erratischen Prozess lässt sie ihrer Linie freien Raum. Mitunter schwärzt sie den weißen Raum des Zeichenblattes in einem Maße, dass sie das Papier an den Abgrund seiner eigenen Fasrigkeit treibt. Die fremde Person ist in einem Zeichengang zu erschaffen. Es werden keine Details ziseliert, alles ist auf die Herausarbeitung der Vielschichtigkeit der Person ausgerichtet, die in den Verbindungen, dem Zusammenspiel von Dichtigkeit und Leere hervortritt und sich darin in ihrer jeweiligen Lebendigkeit kundtut.
Olga Stozhars Annäherungsweise meidet eine Gesamtdarstellung des Opferdaseins der Gemordeten. Stattdessen stellt sie einen neuen Zusammenhang zwischen ihnen her. Ihr bewegter zarter dünner Zeichenstrich lässt die Gesichter in so unterschiedlicher Weise sprechen, dass sich zwischen ihnen eine Menschlichkeit herstellt, die den Tätern in jeglicher Hinsicht fehlte. Stozhars formales Mittel, der ungehemmte Zeichenstift, setzt eine Dialektik in Gang, der die Opfer in ihrem Eigensein freisetzt, dieses Eigensein zu einem vielstimmigen Chor sehr individueller Stimmen verdichtet und darüber ein Miteinander schafft, welches in paradoxer Weise im Angesicht ihres Untergangs die menschliche Vielgestaltigkeit preist und uns, der Nachwelt, die Menschlichkeitsfrage vor Augen stellt.

For three years now, the Jewish-Russian artist Olga Stozhar has been working on a large-scale project dealing with a subjective commemoration and artistic “bringing to life” of the victims of Nazism. The project is titled: “they are looking at us”. For this purpose, Olga Stozhar uses photographs of victims who died in the concentration camps or during the Warsaw Ghetto Uprising. She obtains these photographs from archives and available documentary material. In a highly intense drawing process, she uses the images as a model to bring the facial features of the victims into a different life on sheets of A3 paper through an unceasing sequence of black, blue or red lines.
The artist’s electrifying, dynamic line is essential in creating this sense of life, whereby her approach diverges from a conventional analytic drawing process. She does not primarily use the drawn line to delimit volume or accentuate the characteristic features of a face. Her line much rather serves, like a pendulum with a momentum-generating weight, to trace an extremely complex path across the entire field of the drawing surface through expansive movements, which always leads her to the edge of the plane and then back, resulting in various dense areas that form over the course of the work. Her drawing is reminiscent of the early scribblings of small children in which no distinction has yet been made between the drawing actually representing something and the child’s testing out of its own kinesic behaviour. This return to the primal graphic expression gives the drawings an elementary quality in the simultaneous probing of the Self and the empathy with the Other with their psychological dispositions. In this respect, it could be said that her pen is a direct extension of her own emotions in relation to the murdered Other.
Stozhar employs a fine, circling line. This line always remains extant as a line. Even in the most intensively dense areas and erratically jagged forms, it is the individual line that delineates its way to an unpredictable destination. Applied to the paper with varying pressure, it nevertheless always remains the same thin line. She never uses multiplied or mechanical lines in the shape of hatching. Her line displays densities, entanglements, a dense proximity with itself, but also isolation in the emptiness of the space. Its path over the paper is characterised by a dynamic progression and expansiveness as well as countless about-turns. The space of the paper is explored differently in each drawing. Some of the linear areas become so dense that the white of the paper disappears, while elsewhere, there are open areas in which the paper appears as a bright white surface. However, the white and the black have nothing to do with light and shade. Remark-ably, there is no light and no shade in the world of Olga Stozhar’s drawings. It would therefore be possible to speak of a world beyond our natural world, a world of speaking ghosts or one of souls. There is no narrative in her drawing world, everything is much rather concentrated on elementary human expression.
The scale of the faces is much larger than that of a human face. Nonetheless, they do not appear monumental. The focus on the harmony of the lines brings to appearance a purely human expression rather than the individual features of the face. This concentration on expression keeps us at bay so that we experience the faces as coequal and not as enlarged. The clearly visible material physicality and energy of the line and the fragile softness and thinness of the paper renders the human vulnerability and affectedness all the more evident.
Each face is framed differently within the pictorial format, whereby Stozhar resists gravity and disregards the vertical and horizontal. At times, the faces appear so tilted in the picture that parts of them are cropped off. By this means, however, she reinforces the immediacy and directness of the assertion because the face seems to emerge from a living moment.
The dialogue between the passages of dense drawing and the blank areas of the white paper cause a constant tipping of our perception as beholders. We are unable to decide whether the actual weight of meaning lies in the fullness or in the emptiness. This vacillation in particular lends Stozhar’s access to the murdered victims an appropriateness in the open apportionment of significances because we as survivors need to re-establish our access differently to each individual drawing.
Viewing the drawings consecutively as in a book, the richness and diversity of the human face with the life inscribed in it is revealed. Then, viewing the faces as they have been carefully combined into individual blocks in the exhibition, a different, paradoxical experience ensues. In the fullness of their consonance, the loss inflicted on humanity through these murders is manifested. Simultaneously, however, and this is an astonishing experience, a relationship develops between these people, they speak to one another. Because this dialogue plays such a crucial role within the individual presentation blocks, Olga Stozhar worked on the installation for a long time. Her concern is to show warmth and love, in other words, the opposite of violence and death, cruelty and injustice.
As a dialogical linking structure, Olga Stozhar has chosen a three-part rhythm which automatically creates a tension between centralisation and decentralisation, central axis and peripheral axis. At the same time, through the uniform spacing of the drawings, a vertical and horizontal link is established between the faces. A complex field of possibilities arises from this arrangement because formal properties within the individual drawings are able to pass over from one drawing to another. Each face is shaped by the construction of the mouth, nose, eyes and ears, as well as the accompanying hair. The position of eyes with respect to one another, the manner in which a nose sets itself between them and reaches towards a mouth, the way in which the mouth, through the curve of the lips, lends the nasal cavities a closed or open form, differs in each specific case. Because, however, Olga Stozhar’s line never describes the individual sense organs, but integrates them in a web of connecting lines from which they emerge, the connecting lines also enter into a conversation with the neighbouring faces. Material traits, such as the hair and the individual shapes are not imitated, everything is geared towards connection, even where the connecting paths themselves have extremely different formal properties. Despite all the restlessness of the line, however, one organ pushes itself to the fore, creating a locus of stillness within the dynamic accents on the surface: the eyes. They act as a fixation point and glue themselves to us, the viewers, in the expectancy of an answer to the open questions of humanity.
Can art deal with this human catastrophe? Adorno’s dictum that to write poetry after the atrocities of Auschwitz is barbaric comes to mind. This dictum cannot, in any event, be answered with artistic realism of any kind: the murdered victims cannot be brought back to life by this means. Olga Stozhar’s response to this challenge is twofold: In place of realism, she employs a drawing process that is not oriented towards the external world and she puts the horror aside. Instead, she focuses on the human core, the individual expression. Her “bringing into life” of the victims remains tied exclusively to the artistic process. Stozhar invents a free line for herself, which seems to stream out of her and culminates in an empathic immersion in the Other. The line engages in an open process that has to be different for each individual person. Rather than devising a specific strategy, Stozhar attempts to set out anew each time on an open-ended search for the Other. In a seemingly erratic process, she gives her line free rein. At times, she blackens the white space of the drawing to such an extent that she drives the paper to the very depths of its fibres. The Other must be created in a single drawing session. No details are chiselled out, everything is directed towards the elaboration of the multidimensionality of the person, which emerges in the combinations, the interplay of density and emptiness, and expresses itself in their respective sense of aliveness.
Olga Stozhar’s approach avoids any overall representation of the victimhood of the murdered individuals. Instead, she establishes a new rapport between them. Her thin, lively pen line allows the faces to speak in such distinctive ways that a human bond arises between them which was absent in every respect among the perpetrators. Stozhar’s formal means, the unbridled drawing pen, sets a dialectic in motion that reveals the victims in their individuality and consolidates this individuality into a polyphonic choir of highly independent voices, thereby creating a communality that paradoxically eulogises human diversity in the face of its ruin and poses us, the succeeding generations, the question of humanity.

Installation Views

Installationviews Hengesbach Gallery, 2020